Der Soldaten- und Volksrat, ab dem 26. November 1918 Arbeiter- und Soldatenrat, war in den meisten Kommunen institutionell, aber auch symbolisch Ausdruck der Revolution – das auffälligste Zeichen, dass sich etwas geändert hatte.
Ich möchte Ihnen im Folgenden drei Fragen beantworten: 1) wie entstand der Göttinger Soldaten- und Volksrat, 2) was waren seine Aufgaben und 3) wie hat die Bevölkerung den Rat und seine Tätigkeit wahrgenommen.
Am 8. November 1918 erfuhren die Göttinger aus der Zeitung vom Matrosenaufstand in Kiel. Unter den Soldaten der Garnison war an diesem Freitag Unruhe zu spüren: einzelne Trupps standen in den Straßen, manche Soldaten trugen rote Schleifen. Ein Soldatenrat hatte sich gebildet. Die Gründungsmitglieder waren Ernst Eysel, Ernst Gutmann, Max Hildebrandt, Karl Kahn, Karl Möhrling, Hermann Trams und Libertus.
Der Soldatenrat orientierte sich am Freitagabend in Richtung Stadt. Vor
dem Hintergrund der Kieler Ereignisse war das durchaus typisch. Die Soldaten suchten den Kontakt mit Vertretern der SPD und den Gewerkschaften.
Dieser 9. November, der „Rote Sonnabend“, begann in Göttingen ruhig. In Berlin sollte die Republik ausgerufen werden, der Kaiser wurde durch den Reichskanzler Max von Baden abgedankt. An der Westfront war ein ruhiger Tag, allerdings nahmen die Amerikaner Verdun ein - noch war Krieg. Ein Zeitzeuge berichtete: (Zitat) „Etwas hatte mich schon am Morgen mißtrauisch gemacht. Als ich aufgestanden war, zwischen 7.00 und 8.00 Uhr, fiel mir auf, daß ich nicht mehr das Pfeifer- und Trommlerkorps üben hörte. Wir wohnten in der Nähe der 82er Kaserne und hörten jedem Morgen in den Herbsttagen die Trommler und Pfeifer üben. Am 9. November hörte ich sie nicht.“
Am späten Vormittag dominierten Soldaten das Stadtbild. Ernst Kelterborn (auf ihn komme ich zurück) schrieb zehn Jahre später (Zitat) „(Dann) sah man schon überall Soldaten mit roten Schleifen, meist aus rotem Krepppapier hergestellt. Einzelne Soldaten hielten die Kameraden an und banden ihnen die roten Papierstreifen ins Knopfloch. Beim Tageblatt hielt ein Offizier einen Soldaten an und forderte das Abnehmen des roten Abzeichens. Es traten andere Feldgraue hinzu und der Offizier entfernte sich. Hielt dann aber einen in der Nähe stehenden Polizeibeamten (Giese) an, den Soldaten wegen des Abzeichens festzustellen, was der Polizeibeamten ablehnte mit dem Hinweis, es liefen bereits viele hunderte Feldgraue mit den roten Bändern auf den Straßen Göttingens herum.“
Der Zeitzeuge Wüster erinnerte sich: (Zitat) „Ich war am 9. November 1918 auf der Weender Straße und habe Einkäufe gemacht. Es war vormittags. Plötzlich sah ich eine Masse Menschen kommen. Es waren ältere Soldaten, meist verwundet, die schäbige, zerlumpte Uniformen anhatten. Vorneweg allerdings marschierten zwei oder drei Mate der Marine in sehr sauberen, schönen blauen Uniformen. Eine Fahne hatten sie nicht. Sie hatten aus einem Vorgarten von irgendeinem Busch einen Stock abgebrochen und ein rotes Stück Papier an ihm befestigt.“
Wie schon am Abend zuvor suchten die Soldaten Kontakt: mit Wilhelm Stegen für die Parteileitung der SPD und Fritz Wedemeyer für die Gewerkschaften. Aber auch mit der Studentenschaft: Gezielt angesprochen wurde der Chemiestudent Kurt Baumann, der der USPD zuzurechnen ist. Ernst Kelterborn, Inhaber der „Göttinger Verkehrszentrale“, wurde ebenso kontaktiert. Sein Sohn Heinz erinnerte sich: (Zitat) „Als wir an der Alten Kaserne vorbeikamen, begegnete uns ein Geismaraner, der rief: "Ernst, Ernst, wir wollen jetzt Revolution machen ! Du mußt sofort mitkommen." Mein Vater drehte sich um und verschwand. Ich ging mit meiner Mutter nach Hause.“
Für 14:30 Uhr wurde eine Versammlung auf dem Theaterplatz angesetzt. Zuvor entwarfen Soldatenvertreter zusammen mit den oben Genannten eine Resolution. Diese wurde als „Die neue militärische Ordnungsgewalt in Göttingen“ tags darauf verbreitet. Das Wetter war regnerisch und windig. Das Soldatenratsmitglied Ernst Gutmann sprach. Um die Revolution nicht wegen schlechten Wetters ausfallen zu lassen, wurde der Beschluss gefasst, zum „Bürgerpark“ zu ziehen. Dort versammelten sich etwa 500 Soldaten, Zivilisten waren nur spärlich vertreten.
Die Teilnehmer der turbulenten Versammlung unter Vorsitz von Wedemeyer wählten einen Volksrat, nicht etwa einen Arbeiterrat. Seine Mitglieder zeichneten sich dadurch aus, dass sie bereit waren, Verantwortung zu übernehmen und vor allem dadurch, dass sie in der Diskussion das Wort ergriffen. (Zitat) „Gewählt wurde der jeweilige Redner oder der, der von irgendjemand vorgeschlagen wurde.“
Dem urprünglichen Volksrat gehörten an: der Buchbinder Hans Kargl (USPD), der Chemiestudent Kurt Baumann (USPD), der Schriftleiter Ernst Kelterborn, der Schuhmachermeister Wilhelm Stegen (SPD) und der Cigarrenhändler Fritz Wedemeyer (SPD). Das Soldatenratsmitglied Ernst Gutmann wurde als erster Vorsitzender des Göttinger Soldaten- und Volksrats gewählt.
Nach dieser nachmittäglichen Versammlung suchte der neue Soldaten- und Volksrat den Kontakt zum stellv. Garnisonsältesten Major Schütz.
(Kommentar: Das Belagerungsrecht des Krieges verschaffte dem Militär, im Falle Göttingens dem stellv. Generalkommando des X. Armeekorps in Hannover, Eingriffsmöglichkeit in alle Bereiche des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens)
Schütz billigte die Resolution und erklärte sich zur Zusammenarbeit bereit. Zunächst wurde ein Aufruf vorbereitet, der die Kommandogewalt zwischen dem Soldaten- und Volksrat und dem stellv. Garnisonsältestens Major v. Schütz teilte.
Parallel suchte man den Kontakt zu OB Calsow. Dieser schrieb dazu 10 Jahre
später (Zitat) „ An dem fraglichen Abend - nach meiner Erinnerung telefonisch durch Herrn Wedemeyer - wurde vom Theaterkeller aus bei mir angefragt, ob die Herren zu mir heraufkommen oder ob ich
mich lieber zu einer Konferenz im Theaterkeller einfinden wollte.
Ich ging in den Theaterkeller und traf dort Herrn W. (Wedemeyer), einen Studenten (Baumann) und nach meiner Erinnerung noch einen dritten (vielleicht auch zwei) Herrn von auswärts.
Die Verhandlungen vollzogen sich sachlich und in artigster Form.“
An diesem Abend noch arbeitete der Soldaten- und Volksrat zusammen mit dem Garnisonskommando und dem Oberbürgermeister den Aufruf: „Die neue militärische Ordnungsgewalt in Göttingen“ endgültig aus. In diesem verpflichtet sich der Soldaten- und Volksrat vor allem zur Aufrechterhaltung von Ruhe, Sicherheit und Ordnung.
Damit war der Tag jedoch noch nicht zu Ende. Eine erneute Versammlung am späteren Abend im Bürgerpark konkretisierte noch einmal praktische Forderungen. Diese lauteten:
Kontinuität durch Ruhe und Ordnung
(Zitat Ernst Troeltsch, Berlin) „Der 10. November war ein wundervoller Herbsttag. Die Bürger gingen in Massen wie gewöhnlich im Grunewald spazieren. Keine eleganten Toiletten, lauter Bürger, manchmal wohl absichtlich einfach angezogen. Alles etwas gedämpft wie Leute, deren Schicksal irgendwo weit in der Ferne entschieden wird, aber doch beruhigt und behaglich, dass es so gut abgegangen war. (…) Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiterbezahlt.“
So ähnlich mag es den Göttinger Sonntagsspaziergängern auch gegangen
sein. Georg Schnath schrieb an diesem Sonntag in sein Tagebuch:
„Wer heute früh durch die Stadt ging, wäre ohne die auffällige Erscheinung der sämtlich unbewaffneten, vielfach mit roten Schleifen geschmückten Soldaten kaum auf den Gedanken dieser großen
Umwälzung gekommen. Vom Rathaus wehten seit 10 Uhr morgens zwei große rote Fahnen über einer großen Menge, die in lebhaften Meinungsaustausch den Weender-Bummel belebte. Die Offiziere bewegten
sich ohne Seitengewehr oder Degen völlig ungezwungen unter den Mannschaften.“
An diesem Sonntagmorgen traf sich der Soldaten- und Volksrat zu seiner ersten Sitzung und ließ beide Aufrufe plakatieren. Zudem gab es eine weitere Besprechung mit dem OB, die das weitere Vorgehen festlegte. Diese lässt sich in ein Wort fassen: Kontinuität
(Der Zeitzeuge Simon Städler gab an - Zitat) „Man hat natürlich nicht gesagt: "So, die Beamten werden nun an die Wand gestellt und wir übernehmen diesen ganzen Krimskram." Oberbürgermeister Calsow ordnete am 10. November an: (Zitat) „Die Stadtverwaltung bleibt in der heutigen Zusammensetzung und mit den heutigen Zuständigkeiten in ihrer Wirksamkeit. Der Magistrat verpflichtet sich weiter, dem Arbeiter- und Soldatenrat in allen wichtigen, den Zustande der Einwohnerschaft berührenden Maßnahmen und Anordnungen vor deren Durchführung Kenntnis zu geben.“
Stadtverwaltung, Garnisonsältester und Soldaten- und Volksrat veröffentlichten drei Tage später einen Aufruf, der diese Kontinuität noch einmal unterstrich: (Zitat) „Alle Militär- und Zivilbehörden sind angewiesen, alle ihnen obliegenden Geschäfte weiterzuführen. Die Bevölkerung hat sich daher stets an die bisher zuständigen Amtsstellen zu wenden und nur dann an den Soldaten und Volksrat zu gehen, wenn begründete Beschwerden vorzubringen sind.“
Trotz der Kontinuität in der Arbeit der Behörden, auch Landrat Mannkopff hatte sich in den Dienst der neuen Ordnung gestellt, scheint in der Göttinger Bevölkerung der Eindruck entstanden zu sein, der Soldaten- und Volksrat regiere die Stadt. Auch deswegen war er schnell überlastet. (Zitat Stadtchronik) „Der Soldaten- und Volksrat lehnt mit aller Entschiedenheit ab, daß von ihm erwartete wird, die tausenderlei Dinge zu erledigen, wofür ein Heer von Militär- und Zivilbeamten zuständig und verpflichtet ist.“
Ernst Gutmann beschrieb das in der Göttinger Zeitung am 14. November so: (Zitat) „Wer nur einmal eine Viertelstunde dem Leben und Treiben in den Geschäftsräumen des Soldaten- und Volksrats im Stadthause zugesehen hat, dem muß der Kopf wirbeln von all diesem Drängen und Begehren hundertfacher Art.“
Relativ schnell gab es personelle Veränderungen im Soldaten- und Volksrat. Bereits ab dem 13. November sollten nunmehr nur noch Mitglieder der beiden sozialdemokratischen Parteien aufgenommen werden. Ernst Kelterborn verabschiedete sich am 12. November, damit verließ ein dezidiert bürgerlicher Vertreter den Rat. Einen Tag später versammelten sich Sozialdemokraten, Freie Gewerkschaften und Soldaten zur Zuwahl zum Soldaten- und Volksrat in der Kaiserhalle. Drei Zivilisten und vier Soldaten wurden gewählt, die Gesamtzahl stieg so auf 8 Soldaten und 7 Zivilisten. Die Stimmung war optimistisch bis kämpferisch, die Göttinger Zeitung schloss: „Wohl jeder hat gestern abend die Ueberzeugung mit heimgenommen, daß es rastlos vorwärts geht in Göttingen!“
Einen handfesten Skandal gab es durch die Verhaftung des Vorsitzenden Ernst Gutmann am 26. November. Er hatte am Morgen im Namen des Soldaten- und Volksrats ein Plakat anschlagen lassen, auf dem zur Ablösung der Provinz Hannover von Preußen aufgerufen wurde. In der Sitzung abends zuvor war er für sein geplantes Plakat von Deneke und Hildebrandt angegriffen worden und die deutliche Mehrheit des Soldaten- und Volksrats hatte sich dagegen ausgesprochen. Der Rat justierte in der Folge seine Struktur neu und nannte sich fortan Arbeiter- und Soldatenrat.
Das Geschäftszimmer des Arbeiter- und Soldatenrats befand sich im Stadthaus (heute Stadtbibliothek), Zimmer 20. Man bemühte sich um einen Apparat zur Funkentelegrafie, lieh sich eine Schreibmaschine. Zwei Stenotypistinnen, Else Merten und Frieda Rohpeter, arbeiteten dort und wurden von 7 Bürogehilfen bzw. Ordonancen unterstützt. (Das Zitat in der Stadtchronik von Sekretär Rappe lautet: „Ein Tippfräulein, von denen eins mit dem Landauer zur Geschäftsstelle des AuSR täglich befördert wird, erhält 10-15 M für den Tag.“ )
Wo gerade von Geld gesprochen wurde: Den Mitgliedern des Arbeiter- und Soldatenrats wurde der entgangene Arbeitsverdienst vergütet. Diese Vergütung betrug in Göttingen 10 Mark pro Tag, dafür musste ein Handwerker oder Maurer knapp über 6 Stunden arbeiten. Ab dem Januar 1919 erhöhte sich die Summe auf 15 M. Weil alles seine Ordnung hatte, waren die Ratsmitglieder natürlich auch krankenversichert. Die Kosten wurden zur Hälfte von der Stadt, zur Hälfte vom Landkreis getragen. Für den Soldatenrat überwies die Militärverwaltung ihren Anteil.
Politische Wirksamkeit des Arbeiter- und Soldatenrats
Der Regierungspräsident betonte am 11. November: (Zitat) „Wir machen darauf
aufmerksam, dass kein Arbeiter- und Soldatenrat befugt ist, selbständig irgendwelche Exekutive oder Gewalt auszuüben, es sei denn, dass es sich um dringend notwendige und unaufschiebbare
Verhinderung kontrerevolutionärer Akte handelt.
Selbst in solchen Ausnahmefällen hat der Arbeiter- und Soldatenrat nur in Einvernehmen mit der zuständigen Regierungsbehörde zu handeln.“
Die Aufgaben der Räte waren vielfältig, ihre politischen Kompetenzen waren allerdings deutlich eingegrenzt. „Ordnen und Beaufsichtigen“, so fasste Ernst Gutmann zusammen. Zur ersten Sitzung der städtischen Kollegien nach der Revolution am 19. November schickte der Volksrat Fritz Wedemeyer von der SPD und Hans Kargl von der USPD. Die Beiden kontrollierten die Tätigkeit der Kollegien und zeichneten Beschlüsse ab.
Ab Januar 1919 waren Paul Hildebrandt dem Dezernat von Stadtbaurat Jenner, Fritz Wedemeyer dem des OB Calsow zugeordnet. Der Bauarbeiter Franz Heinrich versah seine Tätigkeit auf dem Landratsamt, Landrat Mannkopff unternahm mehrere Versuche, ihn loszuwerden. Durch die obligatorische Gegenzeichnung von Beschlüssen des Bürgervorsteherkollegiums bestand zwar politische Kontrolle, politisch initiativ werden konnten die Räte dort aber nicht. Fritz Wedemeyer wechselte nicht umsonst ab Anfang März in den neuen Rat, in dem die SPD zum ersten Mal vertreten war.
Die weitere Entwicklung des Arbeiter- und Soldatenrats skizziere ich kurz:
Ende März 1919 wurde der Göttinger Arbeiterrat neu gewählt: Die "bürgerlichen" Arbeiter erhielten 44% der Stimmen, die MSPD 30%, die Eisenbahner 15% und die Unabhängigen Sozialdemokraten 11%. Ende April 1919 trennte sich der gemeinschaftlich arbeitende und nur eine Instanz bildende Arbeiter- und Soldatenrat. Letzterer bezeichnet sich fortan als "Garnison-Soldatenrat“.
Im Juli 1919 gab es wiederum personelle Veränderungen. Entgegen der Entwicklung auf Reichsebene arbeitete der Göttinger Arbeiterrat bis zum März 1920: Franz Arnholdt und August Rabenholdt wurden aus der Kämmereikasse besoldet, der Lokomotivführer Wilhelm Beuermann vom Milch- und Fettversorgungsverband bezahlt.
Einzelne Institutionen wie Krippe und die Mütterberatungsstelle wurden auch noch 1920 finanziell unterstützt (Frau Benfey 1920).
Die Aufgaben des Arbeiter- und Soldatenrats
Um Ihnen einen Eindruck von den vielfältigen Aufgaben zu geben, habe ich das mal aufgezeichnet. Sie sehen, einige Aufgaben entfallen Ende November, wie das „Presse- und Nachrichtenwesen“ und bedauerlicherweise auch die „Frauenfragen“. Für die viele Arbeit brauchte es Unterstützung. Dazu zunächst einmal einen kurzen Exkurs:
Die Volkswehr.
Der Regierungspräsident in Hildesheim richtete am 7. November an die Göttinger Polizeidirektion die Aufforderung zur Bildung einer Bürgerwehr, die den Schutz der Lebensmittelvorräte und die Versorgung der Bevölkerung gewährleisten sollte. Gebildet wurde schließlich eine Volkswehr als „exekutiver Arm“ des Soldaten- und Volksrats, der auch den Oberbefehl übernahm. Eingegliedert war sie allerdings in die Polizei, eine nicht unkomplizierte Konstellation. Auf der Löhnungsliste vom 20. November stehen 93 Namen. Uniformiert waren sie mit Feuerwehrröcken, Helm und Mütze, bewaffnet mit Karabiner und Seitengewehr. Eine Kasernierung erfolgte in der Turnhalle der Mädchen-Mittelschule (heute: MPG), der Gewerbeschule am Ritterplan und den Räumen des Christlichen Vereins junger Männer. Bis Mitte Dezember wurde sie auf 140 Mannschaften verstärkt. Die Volkswehrler erhielten die Löhnung des abkommandierenden Truppenteils + 100 Mark monatlich, die Stadt übernahm Verpflegungs- und Unterbringungskosten.
Bereits ab dem 18. Dezember wurde die Volkswehr auf die Stärke von 40
Mannschaften reduziert, die übrigen 100 Mannschaften wurden von der Bewachungskompanie des IR 82 übernommen. Ende Dezember beschwerte sich der Arbeiter- und Soldatenrat zwar über diese Maßnahme,
aber er konnte den Zug der Zeit nicht aufhalten. Am 3. März 1919 wurde auf einer Sitzung des Magistrat die Einrichtung einer Einwohner- oder Bürgerwehr beschlossen. Diese sollte sich aus
Studenten, Bürgern und Arbeitern zusammensetzen und gegen spartakistische Putsche eingesetzt werden sowie Bewachungsaufgaben übernehmen – und vor allem sollte sie von politisch linken Einflüssen
frei sein.
Zurück zu den Aufgaben des Arbeiter- und Soldatenrats
Grundsätzlich lassen sich dabei drei große Themenkomplexe ausmachen:
Auf zwei werde ich kurz eingehen:
Ernährung
Die katastrophalen Ernährungsbedingungen des Krieges dauerten fort. Rationierungen von Lebensmitteln galten weiterhin, Steckrüben und Brennnesseln standen auf dem Speiseplan. Wärme- und Speisehallen sollten die sozial Schwachen am Leben erhalten. 1916 enthielten die Nahrungsmittelrationen nur noch 1350, seit 1917 kaum noch 1000 Kalorien. Dies führte zusammen mit der zweiten Welle der sog. „Spanischen Grippe“ zu hohen Verlusten an Menschenleben.
In Zeiten der Verknappung und der Konsumregelung entsteht unweigerlich ein Schwarzmarkt. Über Lebensmittelmarken und Höchstpreise wurde versucht, die Verteilung der vorhandenen Nahrung sozial verträglich zu regeln. Der Arbeiter- und Soldatenrat kontrollierte deren Erfassung und Verteilung, ländliche Erzeugnisse unterlagen der Ablieferungspflicht. Lagen die Bestände über der Grenze der Selbstversorger, wurde beschlagnahmt. Bei der Landbevölkerung waren die Vertreter des Arbeiter- und Soldatenrats deswegen wenig beliebt, obwohl es dafür ein Entgeld und eine Quittung.
Beschlagnahmte Lebensmittel wurden verteilt: z.B. Fleisch an den städtischen Schlachthof, Kartoffeln, Obst und Gemüse gingen an die städtischen Verkaufsstände am Johanniskirchhof und in der Roten Straße. (17.12.) Beim Verkauf wurde zudem die Ordnung durch die Uniformierten der Volkswehr aufrechterhalten.( 15.12. Meldung).
Allerdings gab der Rat auch Impulse. Am 7. Dezember 1918 schrieb er an den Gutsbesitzer Spötter in Ballenhausen. Gegenstand des Schreibens war sein „unverhältnismäßig geringes Milchquantum“, das weit unter seinen Produktionsmöglichkeiten blieb. Der Rat schlug vor, ihm Milchkühe „zu recht billigen Preisen“ zu überlassen, um die Milch- und Fettversorgung der Göttinger zu verbessern.
Lebensmitteldiebstähle wurden auch durch die Volkswehr verfolgt. Manchmal reichte zur Aufklärung dieser Diebstähle auch kriminalistisches Basiswissen. Meldung der Volkswehr vom 23. Dezember 1918. (Zitat) „ein Posten verfolgt eine Weizenspur, die nach der Emilienstraße 5 führte und auf dem Güterbahnhof ihren Anfang nahm. Auf Veranlassung des A.u.S.-Rats wurde das betr. Haus untersucht u. der Weizen vorgefunden.“
An die Praxis der Beschlagnahmungen erinnern sich auch die Zeitzeugen. August
Bartels dazu (Zitat) „Die Angehörigen des Arbeiter- und Soldatenrates gingen mit Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten durch die Häuser und kontrollierten Wohnungen und Keller. Einige Familien,
die Land besaßen und etwas ernten konnten, hatten natürlich mehr, als ihnen nach den Marken zustand. Dieser Teil wurde ihnen vom Arbeiter- und Soldatenrat weggenommen und den ärmeren Familien
gegeben. Ob der Arbeiter- und Soldatenrat die Lebensmittel wirklich weitergegeben oder aber für sich behalten hat, weiß ich nicht.“
Auch Willy Wolter war
skeptisch (Zitat) „Die
beschlagnahmten Lebensmittel haben bestimmt die Arbeiter- und Soldatenrate selbst gegessen, denn sie waren ja die ersten, die Lebensmittel hatten. Ich kann aber nicht beweisen, daß es so
war.“
Der Erlös durch den Verkauf der beschlagnahmten Waren kam in die Kassenverwaltung des Unteroffiziers Ulbrich. Er betrug im November 1918 2590 Mark, im Dezember 2798 Mark.
Sicherheit und Ordnung
Eine ebenso wichtige Aufgabe war, wie bereits erwähnt, die Unterstützung der zuständigen Behörden bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Ich illustriere Ihnen das an Beispielen.
Ein sensibler Ort war der Bahnhof, speziell der Güterbahnhof. Er hielt einige Versuchungen bereit, wie sie schon an der Mehlspur sehen konnten. Hier gingen Militärtransporte durch, dort stand Heeresgut in großer Menge. Am 23. November kam es zu Ausschreitungen auf dem Bahnhof und zur vollständige Plünderung eines Sanitätszuges.
Eine Woche später meldete die Volkswehr, dass bayrische Truppen beim Zwischenhalt einige Güterwagen öffneten und Kunsthonig entwendeten. Die Wache konnte nur noch 37 Pakete davon sicherstellen.(30.11.) Am 2. Dezember stahlen Mannschaften eines Feldartillerieregiments Stroh am Güterbahnhof. Die Meldung dazu sagt lapidar: (Zitat) „Die Posten konnten den Diebstahl nicht verhindern, da die Leute in der Überzahl waren.“ (und mindestens genauso gut bewaffnet)
Die Versorgung mit Energie war ebenso problematisch wie die mit Lebensmitteln. Die Kohle war knapp, sie diente nicht nur der Heizung in den Privathaushalten, aus ihr wurde auch Gas (Kochen und Licht) hergestellt. Das Göttinger Elektrizitätswerk arbeitete stets am Limit. Ab dem 27. November wurde die Entnahme von Gas und elektrischem Strom verboten: in der Zeit von morgens 8½ bis 11 Uhr, 14 bis 16 Uhr und von 22 Uhr bis morgens 5 Uhr.
Diese Auflage wurde überwacht. Volkswehrpatrouillen gingen durch die Stadt und kontrollierten, ob um 22 Uhr überall in den Wohnungen das Licht gelöscht war. Georg Schnath schrieb am 5. Dezember in sein Tagebuch: (Zitat) „Man lebt wie in einer großen Kaserne: kurz nach 10 Uhr abends durchziehen Patrouillen der Bürgerwehr die Straßen und lassen einem Trillerpfiff den nun zur Gewohnheit gewordenen Ruf folgen „Licht aus!“
Die Volkswehrler nahmen ihre Aufgabe so ernst, dass sie auch in Hotels
eindrangen. Am 3. Dezember beschweren sich die Hotelbesitzer beim Arbeiter- und Soldatenrat, die Patrouillen belästigten Gäste wegen brennendem Licht.
Die Patrouillen hatten es nicht immer leicht, wie eine Meldung vom 5. Dezember illustriert (Zitat) „Das Kaffee "National" wurde durch die Patrouille höflich ersucht, das Licht zu löschen. Das
Licht wurde brennen gelassen und das Ersuchen zum Löschen des Lichts mit Auslachen beantwortet.“
Eine der ersten Maßnahmen zur Schaffung von Sicherheit war das Einsammeln von Waffen und Munition. Ab dem 10. November 1918 sollten sie im Stadthaus abgegeben werden, dafür gab es eine Prämie. Ende 1920 beliefen sich diese auf rund 72 000 Mark.
Ich bin jetzt auch am Ende meiner Ausführungen angelangt, nur noch ein kurzes Fazit
Die Betonung von Ruhe und Ordnung scheint für eine Revolution geradezu befremdlich. Wir haben gesehen, wie wichtig Sicherheit und Ordnung für das Leben in Göttingen in den Novembertagen gewesen ist. Dazu zitiere ich noch einmal Ernst Gutmann, den ersten Vorsitzenden des Soldaten- und Volksrats: Am 14. November schrieb er in der Göttinger Zeitung „Ist er (der Rat) doch bei uns in Deutschland nicht im entferntesten eine "bolschewistische" Einrichtung von niederreissender Tendenz, sondern ganz im Gegenteil das zur Zeit einzig mögliche Bollwerk gegen Anarchie und staatlichen Zusammenbruch.“ (Zitat Ende) Die Arbeiter- und Soldatenräte übernahmen Verantwortung für die drängendsten Aufgaben in dieser prekären Situation.
Wichtige Errungenschaften hatte die Revolution Mitte November bereits
hervorgebracht: einen weitgehend gewaltlosen Systemwechsel und eine quasi-parlamentarische Übergangsregierung mit dem Rat der Volksbeauftragten. Die Abschaffung von Belagerungszustand,
Beschränkungen des Vereins-und Versammlungsrechts sowie der Zensur. Eine Amnestie für alle politischen Straftaten. Die Garantie der freien Meinungsäußerung. Die Abschaffung der Gesindeordnungen.
Die gesetzliche Verankerung des 8-Stundentags und der Erwerbslosenfürsorge. Und nicht zuletzt ein allgemeines gleiches Wahlrecht. Vieles andere sollte noch folgen.
Um diese Errungenschaften zu schützen, war „Ruhe und Ordnung“ zentral wichtig. Auch wenn dieses Konzept unseren Vorstellung von Revolution fundamental entgegenläuft.
Vielen Dank für Ihre Aufmersamkeit